Beginn der Passions- oder Fastenzeit

Vielen mag es in diesem Jahr schwerfallen, sich auf die Passions- oder Fastenzeit einzustellen. Über Wochen und Monate haben uns der Corona-Virus und die damit verbundenen staatlichen Maßnahmen bereits zahlreiche Entbehrungen und Einschränkungen auferlegt. Man hat den Eindruck: Fasten kommt in diesen Tagen zur Unzeit! Kann man den Sinn des Verzichtens jetzt noch plausibel erklären oder gar zumuten!

Und dennoch, dem Rhythmus des Kirchenjahres zu folgen kann auch ein Stück abhandengekommene Normalität zurückgeben. Wir nehmen uns die Freiheit, unserer eigenen Agenda zu folgen. Quasi als Gegenentwurf zum alles dominierenden Thema „Corona“. Für alle also, die sich ein offenes Ohr für diese besondere Zeit des Kirchenjahres bewahrt haben, seien die folgenden Zeilen geschrieben.

Fasten ist eine uralte Praxis. Oft war es die Natur selbst, mit ihren Zyklen an Überfluss und Knappheit, die allen Lebewesen eine Zeit der Enthaltung auferlegte. Urvölker, und auch Tiere, begannen dem einen Nutzen abzugewinnen und Fastenzeiten bewusst zu begehen. So ist das Fasten in mehr oder weniger allen Religionen zu finden und keinesfalls ein Privileg christlicher Kulturen. Schon das jüdische Volk des alten Bundes fastete. Und auch die griechischen Philosophen versuchten, auf diese Weise ihren Geist zur Wahrnehmung der Wirklichkeit in die Zucht zu nehmen.

Jesus fastete. Die ersten Christen fasteten. Und schon sehr früh in der Kirche begann man, sich auf die alljährliche liturgische Begehung des Leidens, des Todes und der Auferstehung des HERRN durch eine besondere Vorbereitungszeit einzustimmen. Der Karwoche und dem Ostersonntag wurde eine Passionszeit vorangestellt. Man folgte der Einsicht, dass man dem Erlösungsgeschehen in Kreuz und Auferstehung nicht einfach unvorbereitet begegnen kann, sondern einer Vorbereitung und Verinnerlichung bedurfte. In diesem Sinne war Fasten auch eine Bußübung. Man fühlte sich dadurch in Jesu Leiden hinein und identifizierte sich mit ihm. Das Fasten wurde umrahmt von Gebet, dem Wort der Verkündigung und entsprechend gestalteter Liturgie.

Das Fasten als spiritueller Weg gehört damit zu den bekanntesten und verbreitetsten Methoden der Einübung in die Passionsgeschichte und in das österliche Mysterium. In der evangelischen Tradition wurde Fasten jedoch über lange Zeit als katholische Domäne betrachtet und wegen seiner Affinität zum „guten Werk“ verpönt. Martin Luther hätte „die vielen Fasttage“ am liebsten aufgehoben. In jedem Fall sollte das Fasten „ganz freiwillig und fröhlichen Herzens“ geschehen, und nicht um des schlechten Gewissens willen.

Eigentliches Fasten, im Sinne des mehrtägigen Verzichtes auf feste Nahrung, mit anschließendem Fastenbrechen und einer erneuerten Lebensführung, kommt heute selten vor; am ehesten noch im Umfeld von Rüstzeiten, Einkehrtagen oder Heilkuren. In unserem volkskirchlichen Raum ist es üblich geworden, in der Fastenzeit den bewussten Verzicht lässlicher und irgendwie auch schädlicher Gewohnheiten einzuüben. Dazu wagt man sich einmal aus der Komfortzone der Wohlstands- und Konsumgesellschaft heraus und verzichtet bewusst auf Internet oder Videospiele; man übt Enthaltung vom Autofahren (CO²), Rauchen oder vermeidet Plastik. In diesem Sinne lädt auch die Evangelische Kirche unter dem Motto „7 Wochen ohne“ jedes Jahr zu einem bestimmten Fastenmotto ein.

Wie können wir also die Fastenzeit begehen? In diesem Jahr scheint mir aufgrund des eingangs Gesagten die Freiwilligkeit besonders wichtig zu sein. Niemand muss fasten, schon gar nicht, um ein besserer Christ zu sein. Die Passionszeit kann auch ohne Fasten begangen werden. Für alle aber, die sie dennoch als Fastenzeit erfahren wollen, gilt: Es gibt dazu keine eindeutige Handlungsanweisung. Jeder muss seinen eigenen Weg finden; wie im richtigen Leben. Es gibt lediglich ein paar Dinge, die man sich klar machen sollte:

Überlegen Sie, welche Art Fasten für Sie in Frage kommt, zeitweiser Verzicht auf Liebgewordenes oder „echtes“ Fasten. Zu letzterem lohnt u. U. auch ein Vorgespräch mit dem Hausarzt. Fragen Sie sich: Welche Bedeutung und wie viel Zeit wollen Sie dem Fasten widmen? Sodann werden Sie sich im Klaren darüber, aus welchen Motiven Sie fasten wollen. Geht es um Ihre Gesundheit, Ihr seelisches Wohlbefinden oder um einen bewussten Verzicht nach dem Motto „weniger ist mehr“? Wollen Sie Körper und Seele entgiften (Katharsis)? Steht hinter dem Fasten eine geistliche Suche, etwa nach einer neuen Lebensaufgabe? Oder geht es Ihnen lediglich darum, Ihre Widerstandskraft gegen allzu viele Laster zu trainieren? 

Vergessen Sie bitte nicht, auch Scheitern gehört zur Fastenerfahrung dazu. Sie haben dann eine Grenze wahrgenommen. Seien Sie barmherzig mit sich selbst. Denn darum geht es im letzten Grunde: Gottes barmherzige Herablassung in Kreuz und Auferstehung Jesu zu verstehen.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Passionszeit!

Pfr. Dr. Rainer Sörgel